„Ihr habt’s geschafft“, sagt Paulos Tirekoglou. Er sitzt inmitten seiner „Ladies“. Eine Stunde lang hat er genau beschrieben, was sie machen müssen. Jetzt knien und liegen die Kursteilnehmerinnen auf den Gymnastikmatten, wischen sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ihr Trainer strahlt. „Wenn es nicht anstrengend war, habe ich etwas falsch gemacht,“ sagt er.
Die Übungen selbst vormachen, kann der 45-Jährige nicht. Er ist seit einem Autounfall vor 24 Jahren querschnittsgelähmt, sitzt seitdem im Rollstuhl, auch die Bewegung der Hände ist eingeschränkt. „Deshalb muss ich genau erklären, was ich von den Kursteilnehmerinnen will. Meine Instruktionen müssen exakt sein. Und wer das Pech hat, neben mir zu stehen, muss mir schon mal assistieren und die Übungen vormachen“, sagt Tirekoglou – und zwinkert.Seit März leitet der Wetzlarer den Fitnesskurs beim Turnverein Münchholzhausen. Jeden Dienstag bringt er von 18.30 Uhr bis 19.30 Uhr gute Laune in die Sporthalle – und fordert die Teilnehmerinnen. „Wir sind hier schließlich kein Larifari-Club. Die Mädchen geben Gas, mehr verlange ich nicht. Es geht darum, sich richtig auszupowern. Dabei kann jeder mitmachen, auch Männer sind willkommen“, erklärt Tirekoglou.
Genau erinnern kann er sich noch an das erste Probetraining: „Ich war total aufgeregt und wusste nicht, auf wen ich treffe. Aber es hat mir unheimlich Spaß gemacht und es war eine große Bestätigung für mich, dass beim nächsten Mal alle Kursteilnehmer wiederkamen. Dann war das Ding gebongt und ich hatte den Trainer-Job.“
Keine Selbstverständlichkeit für den Wetzlarer. Vor seinem Unfall war er ein sportlicher, sehr agiler und ehrgeiziger Mensch. „Als Jugendlicher wollte ich Profifußballer werden.“
Doch dann kam alles anders. „Sie müssen sich das so vorstellen: Nach dem Unfall fuhr ich plötzlich nur noch in eine Richtung, ohne Ausfahrt, ohne Wendemöglichkeit. Eine dunkle Zeit.“
Seinen Traum vom Sport will Tirekoglou aber nicht aufgeben. Er holt am Wetzlarer Hessenkolleg zunächst sein Abitur nach. „Dort wurde mir sehr geholfen, das war super.“ Dann fängt er an, Ernährungswissenschaften sowie anschließend Klinische Sporttherapie und Sportphysiologie an der Uni in Gießen zu studieren. In beiden Fächern hat er einen Master. Zudem besitzt er eine Fitnesstrainer-A-Lizenz.
Tirekoglou will arbeiten, er macht unzählige Praktika – auch in anderen Städten – zeigt sich flexibel und örtlich ungebunden, schreibt 47 Bewerbungen. Doch er bekommt nur Absagen – oder gar keine Antwort. „Für keinen kam ich in Frage, das war sehr deprimierend. Und ich fing an, zu zweifeln, ob der Sport für mich der richtige Weg ist.“
Dass er nicht aufgegeben habe, seinen Weg zu gehen, verdanke er vor allem Christoph Wysocki, Trainer beim MTV Gießen. „Er hat mich immer bestärkt, mich unterstützt. So jemanden wie ihn braucht man in einer solchen Lebenssituation.“
"Für keinen kam ich in Frage, das war sehr deprimierend. Und ich fing an zu zweifeln, ob der Sport für mich der richtige Weg ist." Drei Jahre lang habe er in Gießen ehrenamtlich Fitness- und Athletiktraining gegeben. „Da ist mein Entschluss gereift, ich kann das.“ Deshalb habe er auch nicht gezögert, als er die Ausschreibung des TV Münchholzhausen bei der Wetzlarer Arbeitsagentur sah und habe sofort eine Bewerbung geschrieben. Dieses Mal kam keine Absage, sondern ein Anruf aus Münchholzhausen. „Ich war total baff“, sagt der Wetzlarer – und strahlt wieder.Glücklich sind auch die Frauen im Fitnesskurs. „Paulos erklärt das so, dass man alles super umsetzen kann“, sagt Theresa Schmidt, selbst Übungsleiterin im Turnverein Münchholzhausen. Natürlich löse es erst einmal Erstaunen aus, dass der Trainer im Rollstuhl sitzt. Ein Problem war es aber nie.
Auch nicht im Verein: „Wir haben das im Vorstand besprochen und Paulos zum Probetraining eingeladen“, sagt Jörg Schneider, Vorsitzender des TV „Gut Heil“ 1909 Münchholzhausen. „Die Qualifikationen waren super. Wir waren sehr beeindruckt, wie er die Fitnessstunden hält und sind super zufrieden.“
Auch Felicitas Jung-Thomaschewski gerät ins Schwärmen, wenn sie von ihrem Nachfolger spricht. Sie hatte den Kurs aus Altersgründen abgegeben und das Probetraining mit Tirekoglou begleitet. „Paulos weiß genau, was er tut und ich war erstaunt, wie schnell die Teilnehmerinnen umsetzen konnten, was er wollte – ohne die Übung gesehen zu haben.“ Sie bewundert seinen Mut und seine Kraft, die er aus diesem Training zieht. „Und dabei hat Paulos noch so eine unheimlich sympathische Art.“
Für Tirekoglou bedeutet der Fitness-Trainer-Job aber noch mehr: „Auch wenn es nur eine Stunde in der Woche ist – das ist mein erster bezahlter Job und für mich eine unglaubliche Bestätigung nach einer langen Zeit des Suchens. Es ist ein Anfang, ich will eines Tages mit dem Sport meinen Lebensunterhalt verdienen“, sagt er. „Man muss probieren und probieren und darf nicht aufgeben, Absagen nicht persönlich nehmen. Und irgendwann hat man Glück und darf so eine wunderbare Truppe betreuen!“
TV MÜNCHHOLZHAUSENDer Turnverein „Gut Heil“ 1909 Münchholzhausen ist der größte Verein im Stadtteil und hat aktuell 653 Mitglieder, davon sind 210 Kinder. Der TVM verfügt über drei Abteilungen: Handball, Turnen und Tischtennis. Die Handballabteilung bildet mit der Handballabteilung des TSV Dutenhofen seit 1992 die Handballspielgemeinschaft Dutenhofen/Münchholzhausen. Seit 1998 spielt die 1. Männermannschaft in der Ersten Bundesliga. 2001 wurde sie aus der HSG Dutenhofen/Münchholzhausen in eine GmbH & Co. KG ausgegliedert und ist nun besser bekannt als HSG Wetzlar. Die Stammvereine, der TSV Dutenhofen und der TV Münchholzhausen, sind weiter Gesellschafter der HSG Wetzlar GmbH, der geschäftsführenden Komplementärin der HSG Wetzlar GmbH & Co. KG. In der Abteilung Turnen gibt es ein kleines, aber feines Sportangebot von Jung bis Alt – angefangen vom Eltern-Kind-Turnen bis hin zur Hockergymnastik. Im Rahmen einer Kooperation mit der Kita Münchholzhausen bietet der TV einmal in der Woche vormittags Turnunterricht für die Kita an – unabhängig von einer Mitgliedschaft im Verein. In der Abteilung Tischtennis nehmen fünf Männermannschaften am Spielbetrieb teil.
Ein Video zum Bericht finden Sie hier:
www.mittelhessen.de/lokales/region-wetzlar_artikel,-und-irgendwann-%E2%80%A8hat-man-Glueck-_arid,1429064.html
04.11.2018
"... und irgendwann hat man Glück"
Paulos Tirekoglou sitzt im Rollstuhl ?– und ist Fitnesstrainer beim TV MünchholzhausenWETZLAR-MÜNCHHOLZHAUSEN Dienstagabend. Fitnesskurs in der Sporthalle Münchholzhausen. Paulos Tirekoglou gibt Anweisungen, korrigiert, motiviert die Teilnehmerinnen. Der 45-Jährige ist Trainer beim TV Münchholzhausen – und sitzt im Rollstuhl.